Voraussichtliche Lesedauer: 10 Minuten
Laktoseintoleranz und intestinale Fruktoseintoleranz scheinen seit geraumer Zeit vermehrt aufzutreten. In diesem Beitrag, der im Rahmen der UGB Tagung 2022 entstand, will ich der Frage nachgehen, inwieweit es in den vergangenen Jahren einen solchen Anstieg an Nahrungsmittelintoleranzen tatsächlich gegeben hat. Lässt er sich nachweisen bzw. welche Faktoren könnten eine Rolle spielen?
Fakt oder Gefühl
Im Zeitalter des Postfaktischen müssen wir auch in Ernährungsfragen sehr genau hinschauen, ob Aussagen Fakt oder Gefühl sind. Was ist wissenschaftlich belegbar und was nur Hörensagen oder Vermutung. Bezüglich der Frage „Nehmen Kohlenhydratunverträglichkeiten zu?“ ist die Datenlage aktuell noch äußerst schwach. Studien zu diesem Thema sind rar. Was wir aktuell zusammentragen können, sind Indizien, die uns einer Antwort näher bringen können. Letztlich wird es künftig mehr Studien benötigen, vor allem im Hinblick auf eine konsequente Dokumentation der Prävalenz.
Anzahl der Publikationen
Studien zum Thema Kohlenhydratintoleranzen gibt es durchaus. Die Zahl der Publikationen hierzu ist seit gut 30 Jahren steigend. Wobei die Laktoseintoleranz schon seit den 1960er-Jahren genauer erforscht wird, die Fruktosemalabsorption erst seit Anfang der 2000er-Jahre (vgl. Born, 2007). Eine Suche nach „fructose malabsorption“ und „lactose intolerance“ in PubMed zeigt das deutlich.

Das heißt, es gibt immer mehr Studien über gewisse Fragen zu Intoleranzen und damit auch mehr Bewusstsein in der Scientific Community. Doch das ist kein Anstieg an Intoleranzen, sondern einer am Interesse an Intoleranzen. Und dieses Interesse ist überschaubar. So finden sich zum Beispiel in den letzten fünf Jahren zur Fruktosemalabsorption durchschnittlich 55 neue Studien pro Jahr, zur Laktoseintoleranz nur ca. 83. Das Thema Brustkrebs liefert hingegen ca. 30.000 und COVID über 100.000 im Dreijahresdurchschnitt.
Sensibilität
Es lässt sich der Eindruck nicht verwehren, dass wir als Gesellschaft immer sensibler werden, wenn es um unsere normalen Körperfunktionen geht. Unser Darm macht Geräusche. Er zwickt, manchmal schmerzt er ein bisschen, er blubbert und gurgelt und seine Winde und Ausscheidungen riechen unangenehm. Unser Stuhl hat verschiedene Formen und kann nicht jeden Tag dem Typ 3 oder Typ 4 der Bristol-Stuhlformen-Skala (Lewis & Heaton, 1997) zugeordnet werden. Das ist normal. Doch unsere Gesellschaft deklariert jedes Geräusch, jeden weichen Stuhl und jeden Darmwind als Symptom. Aus dem Spruch „Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen“ wurde mittlerweile „Jedes Tönchen gibt ein Symptömchen“. Dies trägt dazu bei, dass das Gefühl entsteht, es gäbe immer mehr Intoleranzen. Tatsächlich reagieren wir jedoch sensibler auf an sich normale Darmmechanismen.
Diagnostik
Das Bewusstsein bezüglich Intoleranzen ist bei Ärzt*innen, vor allem in Österreich und Deutschland, in den letzten 20 Jahren ebenso größer geworden. Das heißt, Patient*innen mit klassischen Intoleranzsymptomen werden schneller als mögliche Betroffene erkannt und deutlich öfter und rascher richtig diagnostiziert. Das wiederum bedeutet, dass in den letzten Jahren signifikant mehr Personen diagnostiziert wurden. Es bedeutet aber nicht, dass es in Summe mehr Betroffene gibt.
Der Goldstandard bei der Diagnose dieser beiden Intoleranzen ist der H2-Atemtest, der mittlerweile auch in hausärztlichen Praxen durchgeführt werden kann. Normalerweise werden Monosaccharide wie Glucose oder Fruktose relativ schnell im Dünndarm vom Körper aufgenommen und kommen mit den Bakterien im Dickdarm gar nicht oder nur in geringem Ausmaß …