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Laktoseintoleranz und intestinale Fruktoseintoleranz scheinen seit geraumer Zeit vermehrt aufzutreten. In diesem Beitrag, der im Rahmen der UGB Tagung 2022 entstand, will ich der Frage nachgehen, inwieweit es in den vergangenen Jahren einen solchen Anstieg an Nahrungsmittelintoleranzen tatsächlich gegeben hat. Lässt er sich nachweisen bzw. welche Faktoren könnten eine Rolle spielen?
Fakt oder Gefühl
Im Zeitalter des Postfaktischen müssen wir auch in Ernährungsfragen sehr genau hinschauen, ob Aussagen Fakt oder Gefühl sind. Was ist wissenschaftlich belegbar und was nur Hörensagen oder Vermutung. Bezüglich der Frage „Nehmen Kohlenhydratunverträglichkeiten zu?“ ist die Datenlage aktuell noch äußerst schwach. Studien zu diesem Thema sind rar. Was wir aktuell zusammentragen können, sind Indizien, die uns einer Antwort näher bringen können. Letztlich wird es künftig mehr Studien benötigen, vor allem im Hinblick auf eine konsequente Dokumentation der Prävalenz.
Anzahl der Publikationen
Studien zum Thema Kohlenhydratintoleranzen gibt es durchaus. Die Zahl der Publikationen hierzu ist seit gut 30 Jahren steigend. Wobei die Laktoseintoleranz schon seit den 1960er-Jahren genauer erforscht wird, die Fruktosemalabsorption erst seit Anfang der 2000er-Jahre (vgl. Born, 2007). Eine Suche nach „fructose malabsorption“ und „lactose intolerance“ in PubMed zeigt das deutlich.
Das heißt, es gibt immer mehr Studien über gewisse Fragen zu Intoleranzen und damit auch mehr Bewusstsein in der Scientific Community. Doch das ist kein Anstieg an Intoleranzen, sondern einer am Interesse an Intoleranzen. Und dieses Interesse ist überschaubar. So finden sich zum Beispiel in den letzten fünf Jahren zur Fruktosemalabsorption durchschnittlich 55 neue Studien pro Jahr, zur Laktoseintoleranz nur ca. 83. Das Thema Brustkrebs liefert hingegen ca. 30.000 und COVID über 100.000 im Dreijahresdurchschnitt.
Sensibilität
Es lässt sich der Eindruck nicht verwehren, dass wir als Gesellschaft immer sensibler werden, wenn es um unsere normalen Körperfunktionen geht. Unser Darm macht Geräusche. Er zwickt, manchmal schmerzt er ein bisschen, er blubbert und gurgelt und seine Winde und Ausscheidungen riechen unangenehm. Unser Stuhl hat verschiedene Formen und kann nicht jeden Tag dem Typ 3 oder Typ 4 der Bristol-Stuhlformen-Skala (Lewis & Heaton, 1997) zugeordnet werden. Das ist normal. Doch unsere Gesellschaft deklariert jedes Geräusch, jeden weichen Stuhl und jeden Darmwind als Symptom. Aus dem Spruch „Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen“ wurde mittlerweile „Jedes Tönchen gibt ein Symptömchen“. Dies trägt dazu bei, dass das Gefühl entsteht, es gäbe immer mehr Intoleranzen. Tatsächlich reagieren wir jedoch sensibler auf an sich normale Darmmechanismen.
Diagnostik
Das Bewusstsein bezüglich Intoleranzen ist bei Ärzt*innen, vor allem in Österreich und Deutschland, in den letzten 20 Jahren ebenso größer geworden. Das heißt, Patient*innen mit klassischen Intoleranzsymptomen werden schneller als mögliche Betroffene erkannt und deutlich öfter und rascher richtig diagnostiziert. Das wiederum bedeutet, dass in den letzten Jahren signifikant mehr Personen diagnostiziert wurden. Es bedeutet aber nicht, dass es in Summe mehr Betroffene gibt.
Der Goldstandard bei der Diagnose dieser beiden Intoleranzen ist der H2-Atemtest, der mittlerweile auch in hausärztlichen Praxen durchgeführt werden kann. Normalerweise werden Monosaccharide wie Glucose oder Fruktose relativ schnell im Dünndarm vom Körper aufgenommen und kommen mit den Bakterien im Dickdarm gar nicht oder nur in geringem Ausmaß in Kontakt. Liegt eine Malabsorption vor, werden diese Zucker weitertransportiert und gelangen in den Dickdarm. Die Bakterien verstoffwechseln die Zucker und erzeugen dabei Gase, u. a. Wasserstoff, und kurzkettige Fettsäuren. Genau das macht sich dieser Test zunutze. Die Wasserstoffmoleküle sind so klein, dass sie ins Blut diffundieren und dann über die Lunge wieder abgegeben werden. Der Wasserstoffgehalt der Atemluft kann gemessen werden und ist somit ein aussagekräftiges Maß für das Vorliegen einer Nahrungsmittelintoleranz. (vgl Born, 2007; Zechmann-Khreis, 2020)
Marketing
Je höher der Anteil an Personen ist, die eine medizinisch bestätigte Intoleranz haben, desto mehr steigt das Interesse der Nahrungsmittelindustrie, Spezialprodukte auf den Markt zu bringen. Nahrungsmittelintoleranzen sind mittlerweile ein gutes Geschäft geworden. In fast jedem Supermarkt findet man Spezialprodukte wie laktosefreie Milch oder glutenfreies Brot. Insbesondere der Markt für glutenfreie Produkte lässt sich international recht gut abschätzen. Es wird erwartet, dass der Weltmarkt für diese Lebensmittel in den kommenden zehn Jahren deutlich weiter wachsen wird, von aktuell ca. 7 Milliarden US-Dollar auf 14 Milliarden US-Dollar 2032. (Wunsch, 2022) Auch der Markt für laktosefreie Nahrungsmittel weist Wachstumsraten von knapp 10 % p. a. auf. Der weltweite Markt für laktosefreie Lebensmittel soll von aktuell ca. 13 Milliarden US-Dollar auf ca. 18 Milliarden im Jahr 2025 wachsen. (The Business Research Company, 2021)
Hier beginnen nun völlig normale Mechanismen einer kapitalistischen Gesellschaft: Derartige Wachstumsraten und somit mehr mögliche Käufer:innen heißt auch mehr Werbung für free-from Produkte. So entsteht der Eindruck, dass es immer mehr Intoleranzen geben muss.
Globalisierung
Aus meiner Sicht spielt auch die Globalisierung bei dieser Frage eine Rolle, und hier vor allem das Übermaß an Nahrungsangebot zu jeder Zeit. Saisonale Nahrungsangebote sind praktisch verschwunden. Uns steht jedes Nahrungsmittel jeden Tag zur Verfügung. Beispielsweise waren Mandarinen früher ein klassisches Winterobst. Im Sommer gab es sie nicht im Einzelhandel zu kaufen. Sauerkraut, Feldsalat, Endiviensalat, Tomaten oder Kartoffeln sind weitere Beispiele saisonal verfügbarer Produkte. Unser Darm, und damit unsere intestinale Mikrobiota, wurde zu unterschiedlichen Jahreszeiten mit anderen Produkten gefüttert. Wir hatten über das Jahr verteilt eine größere Vielfalt an Essen und genossen diese Vielfalt saisonal. Diese Ruhephasen von gewissen Nahrungsmitteln und die Abwechslung im Speiseplan waren für den Darm und das Mikrobiom positiv. Heute bekommen wir jederzeit alles. Mandarinen gibt es im August zu kaufen und im April finden sich frisch geerntete Kartoffeln in österreichischen Supermärkten. Dieses von Saisonen unabhängige Angebot, das uns eine gewisse Ernährungsfreiheit suggeriert, schränkt uns paradoxerweise aber ein. Denn wir kaufen, was wir mögen. Und das ist meistens immer dasselbe. Durch die dauernde Verfügbarkeit von allem vermindern wir die Vielfalt in unserem Speiseplan. Das schadet der Mikrobiota und unserem Darm.
Darmprobleme
Die intestinale Mikrobiota spielt, wie wir heute wissen, eine große Rolle bei sehr vielen gastrointestinalen Erkrankungen und Problemen (vgl. z. B. Mack, 2022). Dies ist jedoch nur ein Mechanismus. Wir schädigen unseren Darm kontinuierlich auf verschiedenste Weise: durch erhöhten Zuckerkonsum und Übergewicht, Stress und daraus resultierenden Entzündungsreaktionen, um nur einige Beispiele zu nennen (vgl. Broussard & Devkota, 2016). Erkrankungen, die auf die industrialisierte Lebensweise zurückzuführen sind, nehmen zu. Als Beispiel seien chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) oder Typ-2-Diabetes genannt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden CED zu einer globalen Krankheit. In den Schwellenländern, deren Gesellschaften sich stärker verwestlicht hatten, traten sie immer häufiger auf – und stabilisierten sich u. a. dank guter Präventionsmaßnahmen in gewissen westlichen Ländern (Ng u. a., 2017). Diabetes tritt bei indigenen Aborigines, die in Jäger- und Sammlergesellschaften leben, praktisch nicht auf. Erst der Übertritt dieser Personen in eine westliche Lebensweise führt zu einer dreimal so hohen Wahrscheinlichkeit, an Diabetes zu erkranken, wie bei nicht-indigenen Australier:innen (O’Dea, 1991; Stewart u. a., 2012).
Wenn unser Darm bzw. die Darmschleimhaut des Dünndarms geschädigt ist, können sekundäre Kohlenhydratintoleranzen auftreten. Das heißt, wenn die Dünndarmzellen derart geschädigt sind, dass sie keine Laktase mehr produzieren können, oder die GLUT-5 geschädigt sind, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Laktoseintoleranz oder intestinale Fruktoseintoleranz bemerkbar wird. Nimmt die Schädigung des Darmes in der Gesellschaft zu, nimmt auch die Anzahl der Intoleranzen zu.
Was heißt das nun?
Nehmen Kohlenhydratunverträglichkeiten wirklich zu, oder trügt der Eindruck? Wir haben drei Faktoren zur Beantwortung der Frage identifizieren können. Einerseits konnten wir sehen, dass wir als Gesellschaft mehr Bewusstsein für Intoleranzen entwickelt haben und sensibler gegenüber der Thematik geworden sind. Andererseits sind in den letzten Jahren deutlich mehr Personen mit Laktose- und intestinaler Fruktoseintoleranz diagnostiziert worden. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass die Intoleranzen mehr werden sondern nur, dass aufgrund der besseren Diagnostik und der Bekanntheit der Problematik öfter und schneller eine solche Intoleranz, die früher unerkannt geblieben wäre, diagnostiziert wird. Somit mag der Eindruck entstehen, dass es immer häufiger Intoleranzen gibt. Außerdem könnten die durch die moderne Lebensweise hervorgerufenen Darmschädigungen die Prävalenz von sekundären Intoleranzen in die Höhe getrieben haben. Daten hierzu fehlen aber. Letztendlich werden wir zur Beantwortung dieser Frage Studien benötigen.
Der Beitrag wurde im Rahmen der UGB Tagung 2022 im Tagungsband publiziert.
Literatur
Born, P. (2007). Carbohydrate malabsorption in patients with non-specific abdominal complaints. World Journal of Gastroenterology, 13(43), 5687. https://doi.org/10.3748/wjg.v13.i43.5687
Broussard, J. L., & Devkota, S. (2016). The changing microbial landscape of Western society: Diet, dwellings and discordance. Molecular Metabolism, 5(9), 737–742. https://doi.org/10.1016/j.molmet.2016.07.007
Lewis, S. J., & Heaton, K. W. (1997). Stool Form Scale as a Useful Guide to Intestinal Transit Time. Scandinavian Journal of Gastroenterology, 32(9), 920–924. https://doi.org/10.3109/00365529709011203
Mack, I. (2022). Mikrobiom und Inflammation bei Adipositas. In Handbuch Essstörungen und Adipositas (S. 473–479). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63544-5_60
Ng, S. C., Shi, H. Y., Hamidi, N., Underwood, F. E., Tang, W., Benchimol, E. I., Panaccione, R., Ghosh, S., Wu, J. C. Y., Chan, F. K. L., Sung, J. J. Y., & Kaplan, G. G. (2017). Worldwide incidence and prevalence of inflammatory bowel disease in the 21st century: a systematic review of population-based studies. The Lancet, 390(10114), 2769–2778. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(17)32448-0
O’Dea, K. (1991). Cardiovascular disease factors in Australian Aborigines. Clinical and Experimental Pharmacology and Physiology, 18(2), 85–88. https://doi.org/10.1111/j.1440-1681.1991.tb01412.x
Stewart, J. M., Sanson-Fisher, R. W., Eades, S., & Fitzgerald, M. (2012). The risk status, screening history and health concerns of Aboriginal and Torres Strait Islander people attending an Aboriginal Community Controlled Health Service. Drug and Alcohol Review, 31(5), 617–624. https://doi.org/10.1111/j.1465-3362.2012.00455.x
The Business Research Company. (2021). Lactose Free Food Global Market Report 2021: COVID-19 Growth and Change to 2030.
Wunsch, N.-G. (2022, August 26). Gluten-free food market value worldwide 2022-2032. https://www.statista.com/statistics/248467/global-gluten-free-food-market-size/
Zechmann-Khreis, M. (2020). Nahrungsmittel-Intoleranzen: Karenzphase, gesunde Ernährung & Wohlbefinden: Laktose, Fruktose, Histamin verstehen und damit leben. MZK Verlag.