Vor allem in Verbindung mit „Darmfloraanalysen“ und IgG4-Nahrungsmittelunverträglichkeitstests hört man immer wieder vom „Leaky Gut-Syndrom“. Was dahinter steckt und ob es wirklich existiert, klären wir in diesem Artiel auf.
Der Begriff „Leaky Gut“ kommt aus dem Englischen und bedeutet „durchlässiger Darm“. Die Idee dahinter: Der Darm verliert durch unterschiedliche Einflüsse wie Parasiten, Infektionen, Stress, Zucker, Gluten (bzw. Gliadin, eine Proteinklasse des Weizens) oder Medikamente seine Barrierefunktion. Schadstoffe wie Mikroben, Gifte oder Nahrungsbestandteile dringen deshalb in den Körper ein. Die Immunabwehr löst in weiterer Folge verschiedene Krankheiten und Symptome aus. Dazu zählt man Allergien, Fettleibigkeit, Krebs, Diabetes, Schilddrüsenunterfunktion, Schilddrüsenüberfunktion, Gelenksschmerzen, Autismus, chronische Müdigkeit oder eben auch Nahrungsmittel-Intoleranzen.
Fakt oder Geschäftemacherei?
Auf den ersten Blick mag das nachvollziehbar, wenn auch etwas verwunderlich klingen. Denn wann immer eine einzige Ursache derart viele unterschiedliche Krankheiten auslösen soll, ist Vorsicht geboten. Und tatsächlich ist das „Leaky Gut Syndrom“ in dieser Form eine reine Erfindung. Die meisten Anbieter die diese Krankheit propagieren, offerieren meist Diagnoseverfahren, Bücher, Präparate, DVDs und natürlich Behandlungen. Das Problem mit Leaky Gut ist folgendes: Hier werden verschiedene medizinisch korrekte Fakten und noch nicht verstandene physiologische Vorgänge zu neuen Theorien verwoben. Man „beweist“ diese Theorien dann gerne mit Hinweisen auf wissenschaftliche Studien, die aber bei genauem Hinsehen entweder etwas völlig anderes aussagen oder gar nichts mit der Thematik zu tun haben. Unabhängige Studien über die Theorie des „Leaky Gut Syndrom“ existieren nicht. Es gibt ein paar wenige Studien von Forschern, die ein finanzielles Interesse haben (z.B. Verkauf von Heilmitteln) und beim genauen Hinsehen keine empirischen Daten beinhalten, sondern meist Erfahrungsberichte sind. Mit ein paar über das Internet verbreiteten Heilungsgeschichten ist die Theorie aber für viele Patienten glaubwürdig genug und man kann beginnen, Geschäfte zu machen.
Hochkomplex – die Darmbarriere
Doch um zu verstehen, warum die Leaky Gut-Theorie nicht haltbar ist, müssen wir zuerst klären, was die vorhin erwähnte Darmbarriere überhaupt ist. Manchmal liest man, sie wäre eine Schicht aus Zellen, die durch ein Protein namens Zonulin zusammengehalten wird und mit einer Schleimhaut samt Mikroben bedeckt sei. Ist diese Zellschicht gestört, würden darin Lücken entstehen und Nahrungsbestandteile oder Bakterien könnten so in den Körper eindringen. Das Bild eines Gartenschlauches mit Löchern wird oft bemüht.Doch so einfach ist es nicht:
Die Darmwand ist ein sehr komplexes Gemisch aus Zellverbänden, einer sehr speziellen „Wasserschicht“, vielen Proteinen, Muskeln und einem Epithelgewebe. Die Darmbarriere hat verschiedene Funktionsweisen: Von der mechanischen Barriere bis hin zur Bildung und Weitergabe von Peptiden und anderen Stoffen. Diese Stoffe wirken antibakteriell, verdauend oder sind Teil des Immunsystems (z.B. das IgA). Die Zellverbände sind dabei nicht statisch, sondern extrem variabel und verändern sich ständig. Die Darmbarriere muss man sich als sehr bewegliche Barriere vorstellen, die mit unzähligen, unterschiedlichen Stoffen und Reizen umgehen muss. Und ja, der Darm ist durchlässig. Das muss er auch sein, sonst könnte er ja seine Aufgabe, die Aufnahme von Nährstoffen, gar nicht bewerkstelligen. Diese Durchlässigkeit des Darms ist stark abhängig von der Lokalisation. Will heißen: Der Dünndarm (in dem weniger Bakterien sind) ist stärker durchlässig, als der Dickdarm (in dem viele Bakterien sind). Die Bakterien (und übrigens auch Pilze wie Candida albicans) interagieren mit einer Schicht der Darmwand, die selbst aus zwei Schichten besteht: Einer dünnen inneren und einer dicken äußeren. In der äußeren Schicht halten sich die Bakterien vermehrt auf, in der inneren sind sie kaum anzutreffen. Ebenfalls im Darm zu finden: Ein Lymphsystem, das „seine“ Bakterien kennt und fremde Bakterien bekämpft.
Der Darm: nicht so durchlässig, wie gedacht
Stoffe können im Darm entweder zwischen den Zellen, oder durch die Zellen hindurch transportiert werden (siehe die Beschreibung der GLUT 5). Beides sind extrem komplexe Vorgänge. Für den Zellzusammenhalt der Epithelzellen und deren Poren sind unheimlich viele Proteine und ein extrem komplexes Zusammenspiel dieser Proteine und anderer Stoffe verantwortlich. Auch wenn das Zonulin hier eine Rolle spielt, so gibt es dutzende andere Proteine, die hier ebenfalls regulierend wirken. Die Epithelzellen können tatsächlich Poren erzeugen, also Stoffe zwischen den Zellen hindurchschleusen. Aber selbst wenn sie die größtmögliche Lücke erzeugen, so ist diese immer noch zu klein, um Nahrungsbestandteile oder Bakterien durchsickern zu lassen. Das heißt: Die Darmbarriere ist ein hochkomplexes System. Die üblichen Erklärungsmodelle des Leaky Gut Syndroms haben nichts mit der Realität in unserem Darm zu tun, da sie viel zu einfach aufgebaut sind und teilweise sogar falsche Angaben machen.
Forschung steckt noch in den Kinderschuhen
Unser Wissen um die Darmmikroben und ihre Wechselwirkung mit dem Körper ist, das muss man zugeben, derzeit noch überschaubar. In den kommenden Jahren wird es hier sicher noch viele interessante Forschungsergebnisse geben. Als gesichert gilt jedoch, dass die enormen Bakterienmengen und tausende Bakterienarten einen massiven Einfluss auf unser Verdauungssystem und unsere Gesundheit haben. Wir wissen, dass im Idealfall ein Gleichgewicht zwischen allen Faktoren herrscht. Verschiedene Ursachen können die natürliche Balance stören und die Darmbarriere in ihrer Arbeit behindern. Das können Darm-Operationen sein, aber auch eine akute Bauchspeicheldrüsenentzündung oder andere schwere medizinische Traumata und Erkrankungen wie Morbus Crohn oder Zöliakie. Auch das Gliadin, ein Bestandteil des Gluten, scheint z.B. das Zonulin zu beeinflussen. Vor allem dieser noch nicht sehr lange bekannte Zonulin-Mechanismus wird in den kommenden Jahren sicher viele interessante neue Erkenntnisse bringen. Nach heutigem Wissensstand schaffen es diese Stoffe aber nicht, den Darm dermaßen zu schädigen, dass es zu merkbaren Störungen, geschweige denn zu den eingangs beschriebenen Krankheiten kommt. Möglicherweise kann aber eine lang andauernde Fehlernährung ihren Beitrag dazu leisten, dieses System aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auch ist denkbar, dass ein durch Intoleranzen geschädigter Darm die Barriere zusätzlich schwächt und in ihrer Arbeit behindert. Sehr wahrscheinlich ist ein Zusammenhang zwischen dem so genannten Reizdarmsyndrom und einer gestörten Darmbarriere. Es wird angenommen, dass die Dünndarmschleimhaut bei Patienten mit Reizdarmsyndrom dünner ist als beim gesunden Menschen und auch die Verbindungen zwischen den Dünndarmzellen in ihrer Funktion eingeschränkt sind. Dadurch kann es zu Entzündungen, Symptomen und Fehlfunktionen kommen. Beim Reizdarmsyndrom haben wir es also tatsächlich mit einem „leaky gut“ zu tun – wobei Fachleute lieber von „erhöhter intestinaler Permeabilität“ sprechen, weil „leaky gut“ impliziert, dass da Löcher im Darm wären, wie in einem kaputten Gartenschlauch. Dieses Bild ist definitiv irreführend.
Leaky Gut – das wissen wir sicher:
- Das Darmmikrobiom (also die Darmflora) hat einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit
- Es sollte im Darm ein Gleichgewicht zwischen allen Faktoren (Bakterien, Schleimschicht, Wasserschicht, Proteine, …) herrschen
- Diese Faktoren können durch schwere (!) Krankheiten oder Darm-Operationen gestört werden
- Diese Faktoren können durch die Ernährung beeinflusst werden, aber: diese Faktoren können nicht bzw. nicht ausreichend durch Nahrung gestört werden, um Krankheiten wie Autismus, Krebs oder Intoleranzen zu provozieren.
- Bei Reizdarmsyndrom, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Zöliakie gibt es tatsächlich Probleme mit der Darmbarriere oder einer Komponente der Darmbarriere; Der Zonulin-Mechanismus scheint hier eine Rolle zu spielen
- Eine vermehrte Darmdurchlässigkeit ist nicht notwendigerweise schädlich
- Die „Löcher“ zwischen den Epithelzellen (die völlig normal sind), sind selbst im schlimmsten Fall viel zu klein, um größere Moleküle, geschweige denn Nahrungsbestandteile oder Bakterien durchzulassen
- Der Vergleich mit einem löchrigen Gartenschlauch ist falsch und irreführend
Gibt es nun das Leaky Gut Syndrom oder nicht?
Das „Leaky-Gut-Syndrom“ als eigenständiges Syndrom zu definieren, das z.B. durch unsere moderne Ernährungsweise hervorgerufen wird, für eine Vielzahl an Zivilisationskrankheiten verantwortlich und über simple Bluttests zu diagnostizieren ist, ist – sagen wir es mal vorsichtig – sehr verwegen. Es fehlt hierfür derzeit einfach jeglicher wissenschaftlicher Nachweis. Das Theoriegebäude rund um das Leaky Gut Syndrom steht auf einem sehr wackeligen Fundament und widerspricht oft dem derzeit gesicherten Wissen um den Darm und seine Funktionsweise. Das große finanzielle Interesse am Verkauf von „Heilmitteln“ und Diagnoseverfahren für das Leaky Gut Syndrom ist hoch und sollte jeden Patienten daran erinnern, kritisch zu sein.
Dass der Darm wichtig für unser Wohlbefinden ist, das steht außer Frage. Doch sollten Patienten mit Verdauungsproblemen besser eine gute Diagnostik durchlaufen, bevor sie sich selbst ein Syndrom diagnostizieren, das es in dieser Form gar nicht gibt.
Quellen
1) Bischoff SC, Barbara G, Buurman W, et al. Intestinal permeability: a new target for disease prevention and therapy. BMC Gastroenterol 2014; 14:189.
2) Boirivant M, Amendola A, Butera A, et al. A transient breach in the epithelial barrier leads to regulatory T-cell generation and resistance to experimental colitis. Gastroenterology 2008; 135:1612–1623.
3) Johnson, K. (2013). Leaky Gut Syndrome. In F. R. Volkmar (Ed.), Encyclopedia of Autism Spectrum Disorders (pp. 1706–1712). Springer.
4) Michielan, A., & Incà, R. D. (2015). Intestinal Permeability in Inflammatory Bowel Disease : Pathogenesis , Clinical Evaluation , and Therapy of Leaky Gut, 2015.
5) Hazan, Alberto MD & Haber, Jordana MD (2016). Mindful EM: What You Need to Know about the Leaky Gut. Emergency Medicine News: April 2016 – Volume 38 – Issue 4 – p 24; doi: 10.1097/01.EEM.0000482480.51203.62
6) Fasano, Alessio. Zonulin and Its Regulation of Intestinal Barrier Function: The Biological Door to Inflammation, Autoimmunity, and Cancer. Physiological Reviews Published 1 January 2011 Vol. 91 no. 1, 151-175 DOI: 10.1152/physrev.00003.2008
7) Quigley, Eamonn M.M. (2016). Leaky gut – concept or clinical entity?. Current Opinion in Gastroenterology: March 2016 – Volume 32 – Issue 2 – p 74–79; doi: 10.1097/MOG.0000000000000243